Muss man es vielleicht sogar, wenn eine Patientenverfügung existiert, in der der Betroffene lebenserhaltende Maßnahmen ausdrücklich ablehnt? Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem Problem der künstlichen Ernährung von Patienten, die ihren Willen nicht mehr äußern können. Der Autor hält hierzu regelmäßig Vorträge, zuletzt für die Katholische Akademie für Pflegeberufe der Caritas (Programm Vortrag künstliche Ernährung, Programm Vortrag Patientenverfügung). Hier der ausführliche Artikel:

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Darf man Patienten verhungern lassen?

Rechtsfragen der künstlichen Ernährung einwilligungsunfähiger Patienten

I.

Einleitung

Jedes Jahr werden in Deutschland 140.000 PEG-Sonden gelegt (perkutane endoskopische Gastrostomie) und Patienten damit künstlich ernährt. Zwei Drittel davon sind ältere Menschen in Pflegeeinrichtungen oder Kliniken. Viele Patienten können die Entscheidung für oder gegen künstliche Ernährung nicht mehr selbst treffen, entweder weil sie keinen eigenen Willen mehr bilden und/oder sich nicht mehr äußern können.

Also müssen andere für sie entscheiden: Ärzte, Bevollmächtigte, Betreuer, der Vormundschaftsrichter. Nur selten ist für die Beteiligten völlig klar, was der Patient selbst in dieser Situation gewollt hätte. Auch wenn eine Patientenverfügung existiert, was selten genug der Fall ist, bleiben oft Unklarheiten. Vor allem weil Patientenverfügungen meist allgemein formuliert sind. Hatte der Betroffene genau diese Krankheitssituation vor Augen? Hat er vielleicht seit Unterzeichnung der Verfügung seine Meinung geändert?

Manchmal sind die beteiligten Personen auch uneinig. Verwandte, Betreuer, Ärzte – alle haben eigene berufsspezifische Sichtweisen, individuelle Erfahrungen sowie oft auch ein religiös-ethisches Vorverständnis. Beim Verzicht auf bzw. Abbruch von Maßnahmen der künstlichen Ernährung geht es – im Wortsinn – um eine Endscheidung über Leben und Tod. Hier stellen Angehörige, aber auch Pflegekräfte manchmal die provokante Frage: Dürfen wir Menschen denn einfach verhungern lassen? Anders gefragt: Muss man jeden Patienten, bei dem die orale Nahrungsaufnahme gestört oder unmöglich ist, künstlich ernähren? Dieser Beitrag erläutert die rechtlichen Rahmenbedingungen.

 

II.

Wann ist künstliche Ernährung rechtlich zulässig?

 

1. Grundvoraussetzung: medizinische Indikation

Sondenernährung ist ein medizinischer Eingriff, für den es – wie für jeden Eingriff – überhaupt eine medizinische Notwendigkeit (Indikation) geben muss. Dies wird häufig übersehen. Noch bevor man zur Frage kommt: „Hat der Patient selbst eingewilligt bzw. was ist sein mutmaßlicher Wille?“, muss zunächst ein Arzt die künstliche Ernährung für erforderlich erklären. Diese Indikation kann in zwei Richtungen fehlen: entweder ist Sondenernährung noch nicht indiziert (weil eine orale Ernährung noch möglich ist, wenn auch mühsam), oder aber sie ist nicht mehr indiziert, etwa weil der Patient sich im unmittelbaren Sterbeprozess befindet. Allein der Aspekt, dass eine Sonde den Ablauf des Pflegebetriebs erleichtert, rechtfertigt einen solchen Eingriff dagegen nicht. Leider sieht die Praxis in Heimen manchmal anders aus, da die Pflegekräfte nicht genug Zeit haben, einen schwierigen Patienten mehrmals täglich langwierig zu füttern. Manche PEG-Sonde wäre vermeidbar, wenn zuvor alle pflegerischen Möglichkeiten natürlicher Nahrungszufuhr ausgeschöpft würden.

 

2. Wirksame Einwilligung des Patienten

Jeder Eingriff in die körperliche Integrität – auch der medizinische Heileingriff – ist nach deutschem Recht zunächst einmal eine Körperverletzung, die nur dann gerechtfertigt ist, wenn der Patient wirksam in diese Behandlung eingewilligt hat. Eine Einwilligung ist aber nur rechtlich wirksam, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind:

  • der Patient ist einwilligungsfähig,
  • der Patient ist hinreichend über die Risiken aufgeklärt und
  • der Patient trifft eine freie, selbstbestimmte Entscheidung (kein externer Druck)

Patienten, die künstlich ernährt werden (sollen) sind aber oft bewusstlos, apallisch oder dement, können also in der aktuellen Behandlungssituation gerade nicht mehr selbst in die Behandlung einwilligen oder diese verweigern.

Einwilligungsfähig ist ein Patient, wenn er Bedeutung und Tragweite, das Für und Wider einer medizinischen Maßnahme erfassen, die Chancen und Risiken abwägen und seinen Willen entsprechend bilden kann. Einwilligungsfähig (auch als Einsichts- und Steuerungsfähigkeit bezeichnet) ist also nicht identisch mit Geschäftsfähigkeit. So kann ein normal entwickelter, intelligenter 16jähriger durchaus selbst entscheiden, ob er eine Operation durchführen lassen möchte, ist also einwilligungsfähig, aber noch nicht geschäftsfähig. Nicht jede (beginnende) Demenz bedeutet also, selbst wenn bereits ein Betreuer bestellt ist, dass automatisch auch die Einwilligungsfähigkeit fehlt, gerade bei einfach verständlichen Entscheidungen, wie der Frage ob künstliche Ernährung gewollt ist oder nicht. Dennoch ist in der Praxis oft schwer zu beurteilen, ob ein Patient noch einwilligungsfähig ist: Versteht er die ärztliche Aufklärung über Gründe, Nutzen, Risiken und Alternativen der künstlichen Ernährung? Ist der behandelnde Arzt unsicher, sollte er (auch zur eigenen Absicherung) die Meinung eines psychiatrischen Kollegen einholen.

 

Ist der Patient einwilligungsfähig, ist seine Entscheidung für den Arzt verbindlich, auch wenn sie dem Arzt „unvernünftig“ erscheint und dem ärztlichen Rat widerspricht. Künstliche Ernährung gegen den Willen des Patienten ist unzulässig, ja sogar Körperverletzung.

Bereits 1957 urteilte der BGH in einer Grundsatzentscheidung zum Thema Patientenautonomie:

„Das in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz gewährleistete Recht auf körperliche Unversehrtheit fordert Berücksichtigung auch bei einem Menschen, der es ablehnt, seine körperliche Unversehrtheit selbst dann Preis zu geben, wenn er dadurch von einem lebensgefährlichen Leiden befreit wird. Niemand darf sich zum Richter in der Frage aufwerfen, unter welchen Umständen ein anderer vernünftigerweise bereit sein sollte, seine körperliche Unversehrtheit zu opfern, um dadurch wieder gesund zu werden. Diese Richtlinie ist auch für den Arzt verbindlich. Zwar ist es sein vornehmstes Recht und seine wesentlichste Pflicht, den kranken Menschen nach Möglichkeit von seinem Leiden zu befreien. Dieses Recht und diese Pflicht finden aber in dem grundsätzlich freien Selbstbestimmungsrecht des Menschen über seinen Körper ihre Grenze.“

Verweigert der einwilligungsfähige Patient trotz ärztlicher Risikoaufklärung in freier Selbstbestimmung eine künstliche Ernährung, obwohl er keine Nahrung mehr auf natürlichem Weg aufnehmen kann, muss der Arzt diese Entscheidung achten. In aller Deutlichkeit: Man muss diesen Patienten „verhungern lassen“. Die Rechtsordnung räumt dem Recht auf freie Selbstbestimmung Vorrang vor dem ärztlichen Heilauftrag ein. Eine „Vernünftigkeitsprüfung findet nicht statt: So muss ein Arzt etwa auch die religiös motivierte Ablehnung einer Bluttransfusion durch Angehörige der Zeugen Jehowas respektieren, mag er diese Entscheidung auch noch so unsinnig finden. Anders ist es nur, wenn die Grenze zur Psychopathologie überschritten ist: Dann ist der Patient nicht mehr einwilligungsfähig.

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III.

Der nicht einwilligungsfähige Patient

 

1. Eigene Entscheidung des Patienten ist aktuell nicht möglich

Der einwilligungsunfähige Patient kann in der aktuellen Situation nicht mehr selbst einwilligen oder die Einwilligung verweigern. Ohne eine solche Einwilligung ist der Eingriff aber rechtswidrig. Die Einwilligung muss also ersetzt werden. Hierzu gibt es folgende Möglichkeiten:

  • Notfall
  • früher ausdrücklich erklärter Wille des Patienten (Weisung per Patientenverfügung)
  • mutmaßlicher Wille des Patienten
  • Entscheidung eines Vorsorge-Bevollmächtigten (ggf. Zustimmung des VormG)
  • Entscheidung eines Betreuers  (ggf. Zustimmung des VormG)

In einer akuten Notfallsituation, die keinen Aufschub duldet, wird in der Regel ein mutmaßlicher Wille des Patienten pro lebenserhaltender Maßnahme angenommen. Voraussetzung ist aber auch hier – wie stets – eine medizinische Indikation und es darf keine ausdrückliche (frühere) Ablehnung dieser Behandlung vorliegen.

Ohne Notfall müssen die Beteiligten zunächst klären, ob der Patient schon vorher seinen Willen erklärt hat, insbesondere durch eine sog. Patientenverfügung. Eine solche Patientenverfügung ist prinzipiell verbindlich, in der Praxis stellen sich aber dennoch viele Fragen (hierzu später im Detail).

Fehlt eine Patientenverfügung, ist der mutmaßliche Wille des Patienten zu ermitteln und – sofern vorhanden – vom Vorsorge-Bevollmächtigten umzusetzen. Hat der Patient keinen Vorsorge-Bevollmächtigten bestimmt, so muss das Vormundschaftsgericht einen Betreuer bestellen, der die Erklärung für den Patienten abgibt. Sowohl Bevollmächtigter wie Betreuer müssen für bestimmte Entscheidungen die vorherige Zustimmung des Vormundschaftsgerichts einholen; die Details sind streitig und werden von den Gerichten unterschiedlich gehandhabt.

Der Auslöser für eine Betreuerbestellung durch das Vormundschaftsgericht ist meist eine Anregung durch den Arzt, die Pflegeheimleitung oder Angehörige. Meist wird zunächst per „einstweiliger Anordnung“ ein vorläufiger Betreuer bestellt.

Einen gesetzlichen Betreuer kann man oft vermeiden, wenn der Patient frühzeitig, also noch in gesunden Tagen, eine Vertrauensperson zum Vorsorge-Bevollmächtigten ernennt. Mit diesem Bevollmächtigten sollte der Patient dann auch seine Patientenverfügung im detail besprechen, so dass der Bevollmächtigte eine möglichst klare Vorstellung hat, welche Maßnahmen der Patient später einmal wünscht und welche er ablehnt.

Ehegatten oder nahe Verwandte meinen oft, dass sie bei Demenz oder Ohnmacht des Patienten automatisch zum Stellvertreter oder Betreuer werden. Das ist ein Irrtum. Ohne Vorsorgevollmacht haben Ehegatten, Kinder oder Geschwister keine Vertretungsrechte. Das Vormundschaftsgericht kann zwar nahe stehende Personen zum gesetzlichen Betreuer ernennen (und tut dies auch häufig), einen durchsetzbaren Anspruch darauf hat man aber (etwa als Ehegatte) nicht, so dass einem das Gericht auch einen fremden Berufsbetreuer „vor die Nase setzen“ kann, zum Beispiel wenn die Verwandten untereinander zerstritten und uneinig sind. Eine frühzeitige Vollmacht sowie eine Betreuungsanordnung sind daher sehr zu empfehlen.

Der Bevollmächtigte bzw. der Betreuer trifft dann, nach ärztlicher Aufklärung, als Stellvertreter des Patienten eine eigene Entscheidung über die Frage der künstlichen Ernährung, natürlich unter Berücksichtigung des vom Patienten früher erklärten bzw. mutmaßlichen Willens.

 

2. Der mutmaßliche Wille

Betreuer und Bevollmächtigte sowie der behandelnde Arzt müssen sich am mutmaßlichen Willen des Patienten orientieren, da der tatsächliche aktuelle Wille des Patienten nicht zu ermitteln ist. Wichtiger Anhaltspunkt für den mutmaßlichen Willen ist – falls vorhanden – eine Patientenverfügung. Auch mündliche Äußerungen des Patienten, seine allgemeine Lebenseinstellung und religiöse Anschauungen sind wichtige Kriterien. Eine absolute Sicherheit wird es hier aber nie geben, da der Bevollmächtige bzw. Betreuer immer bis zu einem gewissen Grad „spekulieren“ muss: Hatte der Patient in gesunden Tagen wirklich genau dieses Krankheitsbild vor Augen? Hat er sich die Erkrankung zutreffend vorgestellt? War er hinreichend aufgeklärt, welche Behandlungsmöglichkeiten und Alternativen es gibt? Und – hat er vielleicht schlicht seine Meinung geändert? Der Betreuer oder Bevollmächtigte trifft also immer eine eigene Entscheidung, von der er hofft, dass sie mit dem tatsächlichen Willen des Patienten in dieser Situation übereinstimmt.

 

3. Umgang mit Patientenverfügungen

Das Thema Patientenverfügung ist in den letzten Jahren sehr bekannt geworden. Es existieren zahllose Ratgeber, „Musterformulare“ und die verschiedensten Formulierungen von Notaren. Die meisten Patientenverfügungen drücken den Willen des Patienten aus, am Lebensende nicht durch Apparatemedizin künstlich am Leben gehalten bzw. am würdigen Sterben gehindert zu werden.

Seit dem BGH-Urteil von 1957 ist klar, dass solche Patientenverfügungen prinzipiell verbindlich sind. Das Problem steckt aber im Detail: Man kann in vielen Fällen bezweifeln, dass der Patient tatsächlich eine konkrete Vorstellung über die möglichen Krankheitssituation und die Behandlungsmöglichkeiten hatte. Dennoch sehen ca. 85% der Ärzte solche Patientenverfügungen als hilfreich an (bundesweite Umfrage bei niedergelassenen, geriatrisch tätigen Ärzten, vgl. Zeitschrift „Betreuungsrechtliche Praxis“ 2002, 232 ff.). Auch die „Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung“ qualifizieren Patientenverfügungen als „verbindlich, sofern sie sich auf die konkrete Behandlungssituation beziehen und keine Umstände erkennbar sind, dass der Patient sie nicht mehr gelten lassen würde.“

Patientenverfügungen sind also dann verbindlich, wenn damit der mutmaßliche Wille des Patienten bezüglich einer konkreten ärztlichen Maßnahme in einer konkret beschriebenen Krankheitssituation (hieran fehlt es aber oft) „eindeutig und sicher festgestellt“ werden kann. Der BGH erkannte in seiner Entscheidung vom 13.9.1994 den Behandlungsabbruch einer (stabil) im Koma liegenden (also nicht unmittelbar im Sterbeprozess befindlichen) Patientin als rechtmäßig an, wenn mit Sicherheit fest steht, dass dies dem (mutmaßlichen) Willen der Patientin entspricht. Diese sichere Feststellung ist aber genau das Problem, da fast jede Patientenverfügung in Zweifel gezogen werden kann. Eine gesetzliche Regelung, welche Voraussetzungen eine Patientenverfügung erfüllen muss, um valide (wirksam) zu sein, gibt es nicht. Nur wenige Patienten sprechen die Patientenverfügung vorher mit einem Arzt ihres Vertrauens detailliert durch. Es bestehen daher oft nur sehr schwammige Vorstellungen; der Patient will „nicht an den Maschinen hängen“. Ist das wirklich eine so belastbare Willenserklärung, dass man (allein) hierauf den Abbruch der künstlichen Ernährung stützen kann?

Es gibt also bessere und schlechtere Patientenverfügungen. Je detaillierter, konkret krankheitsbezogener und zeitnäher die Erklärung ist, desto eher wird man sie als wirksamen Ausdruck des wirklichen Willens annehmen können (und müssen). Besonders relevant ist eine Patientenverfügung, wenn sie nach ärztlicher Aufklärung formuliert wurde, noch mehr, wenn der Patient gar schon von seiner Krankheit wusste. Weniger überzeugend ist eine Patientenverfügung, wenn sie nur sehr allgemein und lapidar formuliert und eventuell schon vor vielen Jahren (in gesundem Zustand) formuliert wurde. Hier liegt die Annahme nahe, dass der Patient heute vielleicht eine andere Auffassung haben könnte. Es ist daher sinnvoll, die Patientenverfügung in bestimmten Zeitabständen zu bestätigen (erneut mit Datumsangabe zu unterschreiben) und ggf. zu modifizieren.

Konkret zur künstlichen Ernährung: Erklärt ein Patient per valider Patientenverfügung, dass er (in einer konkret beschriebenen, aussichtlosen Krankheitssituation) künstliche Ernährung ablehnt, sind Betreuer bzw. Bevollmächtigter sowie der behandelnde Arzt an diese Erklärung gebunden: Die künstliche Ernährung darf nicht begonnen werden. Wurde sie (ggf. in Unkenntnis der Patientenverfügung) begonnen, muss sie beendet werden.

 

4. Mitwirkung von Bevollmächtigtem oder Betreuer

 

a) Existiert eine Vorsorgevollmacht bzw. ist bereits ein Betreuer bestellt, muss dieser entsprechend den Vorgaben des Patienten handeln und dessen Willen durchsetzen. Noch nixht ausdrücklich entschieden ist, ob die Erklärung des Betreuers bzw. Bevollmächtigten, dem Beginn einer künstlichen Ernährung nicht zuzustimmen, vom Vormundschaftsgericht genehmigt werden muss. Im Zweifel sollte der Betreuer / Bevollmächtigte aber – auch zur eigenen Absicherung – Entscheidung des Vormundschaftsgerichts beantragen (so auch AG Ingolstadt vom 24.9.1998).

b) Existiert (noch) kein Betreuer oder Vorsorgebevollmächtigter, muss aber kurzfristig entschieden werden, bindet eine eindeutige und erkennbar valide Patientenverfügung auch den behandelnden Arzt selbst und unmittelbar. Da der Patient den Eingriff wirksam verweigert hat, muss der Arzt die künstliche Ernährung dann unterlassen. Hat der Arzt – verständliche – Bedenken, kann er zur Absicherung seines Vorgehens (das Unterlassen der künstlichen Ernährung) beim Vormundschaftsgericht eine kurzfristige Entscheidung einholen (entsprechend § 1846 BGB).

Im medizinischen Alltag läuft dies häufig anders, da der Arzt in solchen Fällen praktisch auch keine Konsequenzen zu befürchten hat. Der Arzt beruft sich auf einen Notfall, unklare Faktenlage und beginnt die künstliche Ernährung im Sinne einer Geschäftsführung ohne Auftrag. Dennoch ist dies bei eindeutigen Patientenverfügungen – rechtlich gesehen – eine Körperverletzung und ein Verstoß gegen die Patientenautonomie. In diesen Fällen muss eben nachträglich ein gesetzlicher Betreuer bestellt werden, der die Patientenverfügung auswertet und entsprechend dem Patientenwillen entscheidet (siehe unten Ziff. IV, 3).

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IV.

Fallkonstellationen und Rechtsprechung

 

1. Fallgruppe: Beginn der künstlichen Ernährung

Willigt der Bevollmächtigte bzw. Betreuer in den Beginn der künstlichen Ernährung ein, ist keine Genehmigung durch das Vormundschaftsgericht nötig. Es liegt kein gefährlicher Eingriff nach § 1904 BGB vor. Künstliche Ernährung darf also nur unterbleiben, wenn sie entweder nicht medizinisch indiziert ist (s.o.) oder wenn der Patient diese per valider Vorausverfügung für den vorliegenden Krankheitsfall ausdrücklich abgelehnt hat. Im Zweifel ist „pro vita“ zu entscheiden.

 

2. Fallgruppe: Künstliche Ernährung per Zwang

Ist der Patient (etwa wegen Demenz) nicht mehr einwilligungsfähig, kann sich aber noch äußern und wehren, darf Zwang angewendet werden, wenn die Maßnahme unerlässlich ist, die eingesetzten Mittel verhältnismäßig sind und Betreuer / Bevollmächtigter zustimmen. Auch hier nur, wenn der Patient sich nicht schon vorher mit gültiger Patientenverfügung gegen eine künstliche Ernährung ausgesprochen hat. Bei dauerhaftem Freiheitsentzug (Fixierungen) muss das Vormundschaftsgericht zustimmen (§ 1906 Abs. 4 BGB).

 

3. Fallgruppe: Abbruch der künstlichen Ernährung

Die drei zentralen Entscheidungen des Bundesgerichtshof zu diesem Thema sind:

BGHSt 40, 257  (sog. Kemptener Strafurteil v. 13.09.1994 zur passiven Sterbehilfe):

Das Unterlassen lebensverlängernder Maßnahmen durch den behandelnden Arzt ist straffrei (also weder Tötung durch Unterlassen in Garantenstellung, noch unterlassene Hilfeleistung), wenn die Erkrankung einen irreversibel tödlichen Verlauf hat und in die terminale Phase eingetreten ist

BGHZ 154, 205 (Beschluss vom 17.03.2003):

Diese Entscheidung sollte jeder, der sich mit dem Thema ernsthaft auseinandersetzt im gesamten Wortlaut lesen; es ist daher am Ende als PDF-Download verfügbar.

Sachverhalt: Es ging um einen Patient mit appalischem Syndrom (Wachkoma) ohne Aussicht auf Besserung, der mit PEG-Sonde künstlich ernährt wurde. Es vergingen einige Monate. Der Sohn (als Betreuer) sowie die Ehefrau des Patienten waren einhellig der Auffassung, dass die künstliche Ernährung beendet werden sollte, da dies auch dem Willen des Patienten selbst entsprach (es existierte eine entsprechende Patientenverfügung). Der Sohn beantragte Zustimmung des Vormundschaftsgerichts, die aber nicht erteilt wurde. Über drei Instanzen (AG, LG und OLG) wurde nun darüber gestritten, ob eine Zustimmung in einer solchen Konstellation überhaupt nötig ist oder ob der Betreuer dies allein entscheiden kann. Das OLG legte dem BGH vor, da eine uneinheitliche Entscheidungspraxis der OLGs bestand.

Der BGH entschied, dass für die Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen die Zustimmung des Vormundschaftsgerichts nötig ist (wie bei Maßnahmen gem. § 1904 Abs. 1 BGB). § 1904 BGB sei zwar weder vom Wortlaut her, noch analog anzuwenden. Das Erfordernis der gerichtlichen Zustimmung resultiere aber aus der Natur des Betreuungsrechts. Nicht zuletzt ist das Zustimmungserfordernis auch im Interesse des Betreuers, da dieser dann mit der psychologisch belastenden Entscheidung (des Abbruchs lebensverlängernder Maßnahmen) nicht allein gelassen wird. Das Vormundschaftsgericht stellt sich also schützend vor den Betreuer und legitimiert dessen Entscheidung.

BGH XII ZR 177/03 (Beschluss vom 08.06.2005; NJW 2005, 2385):

Diese Entscheidung steht ein wenig in Widerspruch zur BGHZ 154, 205. Etwas wohlmeinender kann man sagen, es „modifiziert“ die Entscheidung aus 2003. Der Sachverhalt war ähnlich wie in 2003: Verwandte und Arzt waren sich einig, dass die künstliche Ernährung des Komapatienten beendet werden soll. Das Besondere war, dass der Arzt das Pflegepersonal durch einen lieblosen Vermerk in der Patientenakte mit der Umsetzung anwies. Das Pflegepersonal weigerte sich, die Ernährung zu beenden.

Das Gericht entschied nun, dass (trotz des Grundsatzes im Beschluss von 2003) eine Genehmigung des Vormundschaftsgericht doch nicht nötig ist, wenn Betreuer und Arzt übereinstimmen, dass die künstliche Ernährung beendet werden kann / soll.

Im Ergebnis ist eine Zustimmung des Gerichts damit nur in Konfliktfällen nötig, wenn Betreuer / Vorsorgebevollmächtigter und Arzt uneinig sind. Oder aber wenn der Betreuer / Vorsorgebevollmächtigte (auch ohne Konflikt mit dem Arzt) eine solche gerichtliche Zustimmung ausdrücklich möchte, insbesondere zur eigenen Absicherung.

– – –

Abbruch der künstlichen Ernährung in terminaler Sterbephase

In der unmittelbaren Sterbephase ist die künstliche Ernährung in aller Regel schon nicht mehr medizinisch indiziert, da Ernährung den Organismus des sterbenden Patienten nur belastet. Der Abbruch künstlicher Ernährung (und ggf. auch anderer lebenserhaltender Maßnahmen) ist in dieser Situation ohne gerichtliche Genehmigung erlaubt (und sogar ärztlich geboten). Es gibt ein ärztliches Gebot der Lebenserhaltung, aber keine Pflicht zur Verlängerung des Sterbevorgangs, also keine Pflicht des Arztes, das erlöschende Leben um jeden Preis zu verlängern. Auch die Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung erkennen an: Es gibt „Situationen, in denen sonst angemessene Diagnostik und Therapieverfahren nicht mehr indiziert sind, sondern Begrenzung geboten sein kann.“

– – –

Zusammenfassung:

Eine künstliche Ernährung muss unterbleiben bzw abgebrochen werden, wenn:

  • ein noch selbst einwilligungsfähiger Patient die künstliche Ernährung ablehnt oder
  • ein irreversibel hirngeschädigter und dauerhaft einwilligungsunfähiger Patient für diese Situation per wirksamer Patientenverfügung unzweifelhaft im voraus festgelegt hat, nicht (weiter) künstlich ernährt werden zu wollen.

Sie darf (bzw. muss) ferner unterbleiben oder abgebrochen werden, wenn der unmittelbare Sterbeprozess begonnen hat..

 

Materialien zur Vertiefung:

Gesetzeswortlaut des § 1904 BGB (Genehmigung des Vormundschaftsgerichts bei ärztlichen Maßnahmen)

Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung 2004

NEU: Ernährung und Flüssigkeit in der Palliativmedizin, Prof. Dr. Borasio (Download)

NEU: Entscheidungsalgorithmus zur Evaluation einer PEG-Sonde (Download)

BGHZ 154, 205, Beschluss vom 17.03.2003: BGH vom 17.3.2003 als PDF Download

BGH XII ZR 177/03, Beschluss vom 08.06.2005: BGH vom 08.06.2005 als PDF Download

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Weitere Informationen zum Thema:

Broschüre „Vorsorge für Unfall, Krankheit und Alter“ des Bayerischen Justizministeriums (mit Formularen als PDF-Download)
 
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Der Autor Bernhard Schmeilzl, Rechtsanwalt und Master of Laws (England) spezialisiert sich seit 2001 auf Erbrecht und Nachlassabwicklung. Er ist ferner erfahrener Experte für deutsch-britische und deutsch-amerikanische Rechtsfälle, grenzüberschreitende Erbfälle und internationale Nachlassabwicklungen. Er ist Mitgründer und Managing Partner der Anwaltskanzlei Graf & Partner Rechtsanwälte  und betreibt mehrere erfolgreiche Blogs sowie einen juristischen YouTube Kanal.