Ein Dauerbrenner im Erbrecht ist folgende Konstellation: Tochter oder Sohn des Verstorbenen findet dessen Testament, liest den Inhalt und ist entsetzt. Der Verstorbene hat sie bzw. ihn enterbt oder sonstige Anordnungen getroffen, die die Hinterbliebenen für „unsinnig“ halten. War der Erblasser schon alt und manchmal etwas verwirrt, so liegt die Behauptung nahe, der Erblasser sei bereits geschäftsunfähig gewesen, als er sein Testament erstellte. Dann wäre das Testament unwirksam und es träte die gesetzliche Erbfolge ein, was für einige Angehörige in solchen Konstellationen die attraktivere Alternative wäre.
Von diesem Moment an suchen deshalb zumindest Teile der Verwandtschaft nach Argumenten, warum der Erblasser nicht mehr Herr seiner geistigen Kräfte war, als er seinen Letzten Willen verfasste. Ganz so einfach ist das allerdings nicht: Das Gesetz geht vom Grundsatz aus, dass der Erblasser testierfähig war. Wer sich auf die Ausnahme von dieser Regel beruft, muss dafür den Beweis führen. Dies ist in der Praxis äußerst schwierig, allerdings nicht unmöglich. Sofern es sich nicht um eindeutige Fälle handelt, bei denen der Erblasser schon zu Lebzeiten von Ärzten als dement diagnostiziert wurde, muss dies im Prozess durch Sachverständigengutachten bewiesen werden. Dabei sollte man als Prozessanwalt unbedingt darauf hinwirken, dass das Gericht einen erfahrenen Psychiater als Gutachter bestellt. Besonders kompetent hierfür sind Fachärzte für Psychiatrie sowie Nervenärzte, nicht dagegen reine Neurologen oder Psychotherapeuten. Noch besser ist die Schwerpunktbezeichnung „forensische Psychiatrie“ der Ärztekammern. Die Erfahrung zeigt nämlich, dass leider nicht alle Gutachter wissen, worauf es rechtlich eigentlich ankommt. Da der Verstorbene selbst nicht mehr untersucht werden kann, muss sich der Sachverständige sein Urteil „aus zweiter Hand“ bilden. Dies wird weiter dadurch erschwert, dass die nahen Angehörigen oft gegensätzliche Interessen haben, je nachdem ob sie im Testament erwähnt wurden oder nicht, so dass diese als Zeugen oft völlig unterschiedliche Aussagen zum Geisteszustand des Erblassers machen. Die Zeugen schildern den Verstorbenen daher oft völlig unterschiedlich. Dennoch: Erfahrene Psychiater können anhand der Angaben über Verhaltensmuster des Verstorbenen den Geisteszustand auch in der Rückschau meist noch wissenschaftlich beurteilen.
Testierfähigkeit ist nicht identisch mit Geschäftsfähigkeit: Das Gesetz verlangt in § 2229 Abs. 4 BGB, dass der Erblasser „wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit, wegen Geistesschwäche oder wegen Bewusstseinstörung nicht in der Lage war, die Bedeutung einer von ihm abgegebenen Willenserklärung einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln“. Nur wenn diese Definition der Testierunfähigkeit auf den Erblasser zutraf, ist sein Testament unwirksam. Die Beurteilungskriterien der Psychiatrie haben sich hier in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Vieles, was ein Normalbürger in diesem Zusammenhang für wichtig hält, ist für die psychiatrische Beurteilung wenig relevant und umgekehrt. So kommt es z. B. besonders auf die „Freiheit des Willensentschlusses“ an, weniger auf die Fähigkeit des Verstandes. Wie die Gerichte dies im Prozess konkret prüfen sieht man beispielsweise an einem Urteil des OLG München aus 2007.
Ein häufiger Irrtum ist auch, dass ein notarielles Testament größere Sicherheit dafür bietet, dass der Erblasser vor Gericht als testierfähig angesehen wird. Dies mag früher so gewesen sein, heute wissen die Gerichte, dass auch ein Notar nicht beurteilen kann, ob der Erblasser psychisch krank ist oder nicht.
Wer ein Testament wegen Testierunfähigkeit des Erblassers anfechten oder – umgekehrt – ein Testament gegen die Anfechtung eines Dritten verteidigen will, muss schnell aktiv werden. Im ersten Fall sollte man sofort das Nachlassgericht über die Zweifel an der Testierfähigkeit des Erblassers informieren. Dieses muss dann nämlich von Amts wegen prüfen, ob der Erblasser ein wirksames Testament errichtet hat. Allerdings hält sich der Rechercheaufwand des Nachlassgerichts meist in engen Grenzen, wenn man nicht „nachhilft“ und selbst konkrete Indizien für die Testierunfähigkeit liefert. Schon in dieser Phase empfiehlt es sich, einen Psychiater als Privatgutachter einzuschalten, da man in der Regel nur mit einem solchen Fachmann konkrete Argumente für die Testierunfähigkeit beibringen kann. Selbst wenn das Nachlassgericht aber das Testament für wirksam hält und einen Erbschein erlässt, ist diese Entscheidung nicht endgültig. Man kann in diesem Fall das Testament vor dem Zivilgericht anfechten. Spätestens jetzt wird ein Sachverständiger beauftragt. Riskant bleibt eine solche Klage jedoch immer, da die volle Beweislast bei demjenigen liegt, der eine Testierunfähigkeit behauptet. Kann der Sachverständige dies also nicht mit letzter Bestimmtheit bestätigen, so gehen diese Zweifel zu Lasten den Klägers und er verliert den Prozess, was bei den hohen Streitwerten im Erbrecht schmerzlich teuer sein kann. Umso wichtiger ist es, sich vor Klageerhebung durch rechtlichen und medizinischen Rat abzusichern.