Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Autobahn-Abstandsmessung sorgt für Wirbel auf Deutschlands Straßen. Je nachdem, in welchem Gerichtsbezirk und mit welchem Messverfahren die Abstandsmessung erfolgt, besteht Hoffnung auf Freispruch oder droht Verurteilung. Die Rechtslage in Deutschland bei Brücken-Abstandsmessungen gleicht derzeit einem „Fleckenteppich“. Für betroffene „Ordnungswidrigkeiten-Sünder“ hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11.08.2009 (2 BvR 941/08) neue Verteidigungsräume eröffnet. Hier eine ausführliche Bestandsaufnahme der aktuellen Rechtslage: (…)
Mit seinem Beschluß hat das Bundesverfassungsgericht der Verfassungsbeschwerde eines Bürgers stattgegeben. Dem Beschwerdeführer wurde vorgeworfen, mit seinem PKW auf der BAB 19 in Fahrtrichtung Rostock die zulässige Höchstgeschwindigkeit (100 km/h) um 29 km/h überschritten zu haben. Deshalb wurde gegen ihn ein Bußgeld in Höhe von 50 € festgesetzt. Seine beim Amtsgericht Güstrow und anschließend beim Oberlandesgericht Rostock eingelegten Rechtsbehelfe hatten zunächst keinen Erfolg. Das Bundesverfassungsgericht aber hat seiner Verfassungsbeschwerde stattgegeben und beide Urteile aufgehoben. Dies war ein kräftiger Paukenschlag, mit dem das Bundesverfassungsgericht dem Bürger Recht gab. Dennoch ist seither vieles rechtlich unklar.
Zur Begründung seiner Entscheidung führte das Bundesverfassungsgericht aus, dass die Videoaufzeichnung des Verkehrsverstoßes mit dem Verkehrskontrollsystem VKS 3.0 einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Betroffenen aus Artikel 2 Absatz 1 GG i.V.m. Artikel 1 Absatz 1 GG in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung darstelle. Dieses Recht umfasse die Befugnis des Bürgers, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden und daher selbst über die Preisgabe und Verwendung persönlicher Daten zu bestimmen. Durch die Aufzeichnung des gewonnenen Bildmaterials seien die beobachteten Lebensvorgänge technisch fixiert worden. Sie könnten später zu Beweiszwecken abgerufen, aufbereitet und ausgewertet werden. Eine Identifizierung des Fahrzeuges sowie des Fahrers war beabsichtigt und technisch auch möglich. Auf den gefertigten Bildern seien das Kennzeichen des Fahrzeugs sowie der Fahrzeugführer deutlich zu erkennen. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung könne zwar im überwiegenden Allgemeininteresse eingeschränkt werden. Eine solche Einschränkung bedarf jedoch einer gesetzlichen Grundlage, die dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entsprechen und verhältnismäßig sein muss, so das Bundesverfassungsgericht.
Das Amtsgericht Güstrow hatte seine Entscheidung auf den Erlass zur Überwachung des Sicherheitsabstandes nach § 4 StVO des Wirtschaftsministeriums Mecklenburg-Vorpommern gestützt und damit eine verwaltungsinterne Vorschrift als Recht zum Grundrechtseingriff herangezogen. Dies sei rechtswidrig. Rechtsgrundlage für den Grundrechtseingriff könne nur ein formelles Gesetz sein, das der parlamentarische Gesetzgeber erlassen hat. Das Bundesverfassungsgericht hat die Sache daher zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht zurückverwiesen mit der Maßgabe, „dass das Amtsgericht erneut prüfen muss, ob es zutrifft, dass die Anfertigung der Videoaufzeichnung nach keiner gesetzlichen Befugnis gestattet war und wenn dies der Fall sei, ob daraus ein Beweisverwertungsverbot folgt“. Mit diesem Satz hat das Bundesverfassungsgericht „den Ball wieder an das Amtsgericht zurückgespielt“.Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung deutliche Worte zum Grundrechtsbereich der informationellen Selbstbestimmung ausgesprochen, jedoch die Konsequenzen daraus für die Instanzgerichte weitgehend offen gelassen. Sowohl Verwaltungsbehörden als auch Gerichte ziehen aus der Entscheidung je nach Lage im Bundesgebiet unterschiedliche Konsequenzen.
Dies macht die Beratung von VerkehrsOWiG-Sündern derzeit zur Detailarbeit am konkreten Einzelfall, mehr noch, als dies bisher der Fall war. Zunächst ist zu klären, welche Verkehrsüberwachungsmaßnahme durchgeführt wurde, z.B. eine Geschwindigkeitsmessung oder eine Abstandsmessung? Dann ist zu prüfen, welcher Typ von Messgerät zum Einsatz kam. Verwendung finden z.B. die Messanlage Eso 1.0, das Verkehrskontrollsystem VKS 3.0 sowie das Video-Brücken-Abstandsmessverfahren ViBrAM-BAMAS.
Manche Messanlagen produzieren eine verdachtsunabhängige Erfassung bzw. Aufzeichnung, wie in der genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Dabei wird der gesamte Autoverkehr – also auch Fahrer, die sich an die Straßenverkehrsordnung halten – auf einem bestimmten Streckenabschnitt aufgezeichnet.
Andere versuchen durch die Kombination mehrerer Kamerasysteme und eine kodierte Aufzeichnung der Daten nur Tempo- oder Abstandssünder herauszufiltern.
Seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kann man sagen, dass eine verdachtsunabhängige Erfassung bzw. Aufzeichnung rechtswidrig ist.
Das Oberlandesgericht Oldenburg (Ss Bs 186/09 vom 27.11.2009) hat daher ein Beweisverwertungsverbot angenommen und geurteilt, dass die so gewonnen Messdaten nicht als Beweismittel dienen können. Für den betroffenen Verkehrssünder bedeutet dies, dass der Tatnachweis gegen ihn nicht geführt werden kann. Dies führt dann zum Freispruch bzw. zur Verfahrenseinstellung. Im Verfahren ist vom Verteidiger hierzu das Verwertungsverbot zu thematisieren und gegen die Beweisverwertung Widerspruch zu erheben.
Ein uneingeschränktes Beweisverwertungsverbot zugunsten des Betroffenen hat das Amtsgericht Grimma (003 OWi 153 Js 34830/09 vom 22.10.2009) angenommen. Danach macht es keinen Unterschied, ob eine verdachtsunabhängige oder verdachtsbezogene Erfassung bzw. Aufzeichnung vorliege. In jedem Fall – also auch bei sog. Verkehrsblitzern – müsse mangels einer formell-gesetzlichen Rechtsgrundlage von einem Beweisverwertungsverbot ausgegangen werden. Nach dieser Entscheidung sind nahezu sämtliche Verkehrsüberwachungsmaßnahmen rechtswidrig.
Das Oberlandesgericht Hamm ( 1 Ss OWi 960/09 vom 22.12.2009) hat für das Verkehrskontrollsystem VKS 3.0 Version 3.1 entschieden, dass hierdurch eine verdachtsunabhängige Erfassung bzw. Aufzeichnung hergestellt wird und deshalb eine Grundrechtsverletzung vorliege, die zwar ein Beweiserhebungsverbot aber kein Beweisverwertungsverbot nach sich ziehe. Das Oberlandesgericht hat in seiner Beschlussbegründung aber angeführt, dass es bei der Güterabwägung eine Rolle spiele, dass im Zeitpunkt der Messung im März 2009 den Ordnungsbehörden die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts noch nicht bekannt war und der Grundrechtseingriff damals deshalb noch nicht so schwer wog. Aufgrund dieser Begründung mag eine künftige Entscheidung daher möglicherweise wieder anders ausfallen. In diesen Fällen ist es derzeit ratsam, gegen einen Bußgeldbescheid Einspruch einzulegen. Nur so können alle Verteidigungsmittel offengehalten werden.
In Bayern stellt sich das Bayerische Polizeiverwaltungsamt auf den Standpunkt, dass die eingesetzten Brückenabstandsmessverfahren keine verdachtsunabhängige Erfassung bzw. Aufzeichnung fertigen würden und daher verwertbar sind. Technisch würden dabei drei stationäre Videokameras verwendet. Zwei dieser Kameras , die sog. Telekamera und die sog. Messkamera erstellen im Dauerbetrieb zwar Aufzeichnungen auf einem Videoband zur Feststellung einer Abstandsunterschreitung eines Fahrzeugs. Mangels hinreichender Auflösung und Vergrößerung sei mit diesen beiden Videokameras eine Identifizierung der beteiligten Fahrzeuge und der Fahrzeugführer nicht möglich. Erst wenn aufgrund dieser beiden Videokameras Anhaltspunkte für einen Geschwindigkeits- oder Abstandsverstoß vorliegen, werde vom jeweiligen Messbeamten eine dritte Videokamera, die sog. Identifizierungskamera aktiviert, deren Videoaufzeichnung eine Nahaufnahme vom Fahrzeug samt Kennzeichen und Fahrer herstelle.
Das Oberlandesgericht Bamberg (2 Ss OWi 1215/09 vom 16.11.2009) und das Oberlandesgericht Stuttgart ( 4 Ss 1525/09 vom 29.01.2010) haben unter diesen technischen Bedingungen kein Verwertungsverbot angenommen und Verurteilungen zu Geldbußen bestätigt.
Diese Argumentation ist aber zumindest fraglich. Das Auslösen der sog. Identifizierungskamera kann nur aufgrund der „Vorarbeit“ der beiden anderen Videokameras erfolgen, die unbestritten den gesamten Verkehrsraum „screenen“ und zusammenhängend auf Video festhalten. Zum anderen stützen sich die bayerischen Gerichte auf § 100 h StPO i.V.m. § 46 OWiG als Rechtsgrundlage für den Einsatz der Messverfahren. Auch hiergegen bestehen erhebliche Bedenken. So geht die Gesetzesbegründung zur Schaffung von § 100 h StPO davon aus, dass eine Regelung der verdeckten strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen zur Bekämpfung von schwer ermittelbarer Kriminalität, Transaktions- und Wirtschaftskriminalität sowie Straftaten, die unter Nutzung moderner Kommunikationstechnologien begangen werden, bereitgestellt werden sollte. Der Gesetzgeber hatte damit insbesondere die Fälle der organisierten Kriminalität im Auge und nicht die Verfolgung von Verkehrsordnungswidrigkeiten. Zweifelhaft ist daher, ob § 100 h StPO eine tragfähige Rechtsgrundlage für die Verkehrsmessungen darstellt. Trotz anderslautender obergerichtlicher bayerischer Entscheidungen können sich diesem Argument auch die bayerischen Amtsrichter nicht völlig verschließen. Insofern ist auch hier Hartnäckigkeit im Rahmen der Verteidigung angesagt. Es wird wohl der Bundesgerichtshof klären müssen, ob die Messungen rechtmäßig sind oder nicht. Eine engagierte Verteidigung wird in jedem Fall die Problematik eines Verwertungsverbotes behandeln.