Können sich Grundschüler gegenseitig auf Schmerzensgeld verklagen?

Jungs raufen halt!

Oder, wie es in der englischen Variante heißt: „boys will be boys!“

Das Beitragsfoto zeigt eine alltägliche Szene. Kommt in deutschen Schulen täglich tausende Male vor. Schüler (meist Jungs) schubsen sich, treten sich in den Hintern, nehmen einander in den Schwitzkasten und boxen sich auf den Arm. Lehrer und vor allem Lehrerinnen finden das nicht toll, rufen mehrfach pro Schultag „Schluss jetzt!“ und „Aufhören“, wissen aber tief in ihrem Pädagogenherzen, dass eine Rangelei-freie große Pause genauso wahrscheinlich ist, wie ein Einser-Schnitt in der nächsten Matheprobe.

In der allermeisten Fällen bleibt es ja zum Glück auch bei harmlosen Interaktionen. Blauer Fleck hier, aufgeschürftes Knie dort.

Was aber, wenn diese Grenze der „sozialüblichen und alterstypischen Rangelei“ überschritten wird und ein Schüler einen anderen absichtlich verletzt? Ein Faustschlag ins Gesicht. Ein Tritt in den Bauch. Ein geworfener Stein. Da hört dann auch für die Lehrkräfte mit „boys will be boys“ Grundeinstellung der Spaß endgültig auf. Ich hatte in der Kanzlei Fälle, in denen ein Viertklässer seinen metallenen Tretroller (Scooter) auf einen Klassenkameraden geworfen hat. In einem anderen Fall schlug ein Grundschüler dem anderen so fest auf’s Ohr, dass diesem das Trommelfell riss. Wohlgemerkt: Keine 15-Jährigen an „Brennpunktschulen“, sondern 10-jährige Grundschüler.

Strafmündig erst ab dem 14. Geburtstag

In solchen Fällen gibt es dann einen (verschärften) Verweis, klar. Im Wiederholungsfall vielleicht auch Schulausschluss. Aber sonst passiert nicht viel, denn schließlich sagt § 19 Strafgesetzbuch (StGB):

„Schuldunfähig ist, wer bei Begehung der Tat noch nicht vierzehn Jahre alt ist.“

Oder?

Nun, strafrechtliche Schuldunfähigkeit bedeutet nur, dass dem Kind keine strafrechtliche (!) Verurteilung droht

Zivilrechtlich haften Kinder bereits ab dem 7. Geburtstag

Was viele Eltern, Lehrer und natürlich auch die Kids selbst oft nicht wissen: Die zivilrechtliche Haftung läuft nach ganz anderen Regeln als die strafrechtliche Verantwortlichkeit. Zur Verblüffung vieler steht nämlich in § 828 Abs. 1 BGB:

„Wer nicht das siebente Lebensjahr vollendet hat, ist für einen Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich.“

Bedeutet im Umkehrschluss: Wer sieben Jahre alt oder älter ist, haftet prinzipiell sehr wohl auf Schadensersatz. Nun schränkt § 828 Abs. 3 BGB das zwar ein wenig ein. Danach haftet ein Kind zwischen 7 und 18 Jahren nämlich dann nicht:

„… wenn es bei der Begehung der schädigenden Handlung nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht hat.“

Das bringt dem Kind aber in den oben genannten Beispielsfällen wenig, denn ein „normal entwickelter“ Viertklässler weiß, dass man jemanden nicht ins Gesicht boxt und keine Steine oder Tretroller nach Mitschülern wirft. Das Kind müsste sich vor Gericht dann ja allen Ernstes mit dem Argument verteidigen:

„Sorry Digga für deine Platzwunde am Hinterkopf, aber ich hab echt nicht gewusst, dass ich nicht mit nem Stein auf dich werfen darf.“

Das überzeugt das Gericht bei einem Viertklässler eher nicht. Für solche vorsätzlichen Verletzungshandlungen haftet somit also bereits ein Grundschüler. Schüler in weiterführenden Schulen sowieso, auch wenn sie noch kein 14 Jahre alt sind.

Schadensersatz umfasst auch Schmerzensgeld

Das Kind selbst (nicht die Eltern!) ist somit zum Schadensersatz verpflichtet. Ein hoher finanzieller Schaden entsteht dem verletzten Kind in solchen Fällen selten, weil die Arztkosten meist von der Krankenkasse getragen werden. Aber, was viele ebenfalls nicht auf dem Schirm haben: Schadensersatz bedeutet bei Körperverletzung nach § 253 BGB auch Ersatz des immateriellen Schadens, vulgo: Schmerzensgeld. So ein geplatztes Trommelfell tut schon einige Tage lang höllisch weh. Da sind ein paar hundert Euro Schmerzensgeld drin. Ganz zu schweigen von extremen Fällen, bei denen ein die Treppe hinunter geschubstes Kind sich Brüche zuzieht oder gar dauerhafte Schäden behält. Gottlob seltene Fälle, aber es gibt sie.

Und auch für dieses Schmerzensgeld haften nicht die Eltern, sondern das vorsätzlich schädigende Kind selbst. Die Eltern selbst würden nur bei Verletzung der Aufsichtspflicht haften, aber während der Schulzeit haben die Eltern keine Aufsichtspflicht. Die Lehrer dagegen schon, aber das ist ein separates – noch komplizierteres – Thema.

Kind hat kein Geld?

Somit kann ein Grundschüler tatsächlich zur Zahlung von Schmerzensgeld verurteilt werden. Wer jetzt einwendet: Ist doch albern, einen 10-Jährigen auf Schmerzensgeld zu verklagen. Der hat doch eh nix. Wollen die ihm sein Taschengeld pfänden oder was?

Nun ja, so leicht kommt man aus der Nummer nicht raus: Wenn das geschädigte Kind es wirklich durchzieht, seinen Schulkameraden auf Schmerzensgeld zu verklagen (beide im Prozess natürlich jeweils vertreten durch ihre Eltern) und gewinnt, dann hat er ein Urteil, aus dem er 30 Jahre vollstrecken kann. Und irgendwann während dieser Zeit wird es dann wohl etwas zu vollstrecken geben.

Letzte Chance der Verteidigung: „Er hat doch angefangen!“

In der gerichtlichen Praxis kommen solche Prozesse selten vor. Erstens weil die Fälle vorsätzlicher Körperverletzungen, die zu erheblichen Verletzungen führen, gottlob doch selten sind. Zweitens weil die beteiligten Eltern, wenn sie überhaupt von der rechtlichen Möglichkeit eines solchen Anspruchs wissen, es in den wenigsten Fällen durchziehen. Ist ja auch eine seltsame Situation, wenn man sagen muss:

„Wir haben morgen eine Verhandlung am Amtsgericht, weil unser Nico den Kevin von dem Hubers gegenüber auf 400 Euro Schmerzensgeld verklagt“.

Das deeskaliert die Stimmung im Klassenzimmer eher nicht.

Und drittens, weil vor Gericht dann meistens lang und breit über die Frage eines etwaigen Mitverschuldens des Geschädigten (§ 254 BGB) diskutiert werden müsste. Mit den Worten von Kevin: „Der Nico hat doch angefangen. Ich hab mich nur gewehrt!“

Fazit: Hope for the best!

Man sollte als Lehrer/in und als Erziehungsberechtigter schon mal davon gehört haben, dass Kinder bereits ab dem 7. Geburtstag zivilrechtlich auf Schadensersatz haften (deshalb ist auch eine Haftpflichtversicherung unverzichtbar!). Eine Klage auf Schadensersatz und/oder Schmerzensgeld gegen einen Schüler tatsächlich vor Gericht zu bringen, ist im echten Leben aber wohl nur im Ausnahmefall sinnvoll.

 

Der Autor ist Experte für deutsches und englisches Zivilprozessrecht. Dabei verklagt er selten Schüler, sondern meist international tätige Unternehmen. Mehr zum Hintergrund von Rechtsanwalt Bernhard Schmeilzl hier: https://www.englischesrecht.de/experten/bernhard-schmeilzl

 

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